Moderator*innen

Eine gute Moderation macht eine Veranstaltung rund. Umso schöner ist es, dass uns Cornelia Jentzsch und Jan Wagner durch die Lange Lesenacht im Heimathafen Neukölln begleiten, und Ellen Katja Jaeckl, Thomas Plaul, Spiros Moskovou, Astrid Kaminski und Angie Saltampasi die Symposiumstage und Abendlesungen mit uns verbringen.

Wir haben ihnen Fragen gestellt und sie haben geantwortet:

>>Was fällt dir spontan zu Berlin/ Athen ein?

Ellen Katja: Beide Städte sind ein Teil meines Lebens – heuer lebe ich 7 Jahre in Berlin, und genauso lange war ich zuvor in Athen.

Jan: Zu Berlin: Abende auf Neuköllner Balkonen. Zu Athen: Ein Tagesanbruch auf der Agor.

Astrid: Kreativität, Uringeruch, Ausverkauf der Stadt, Streetart, Anarchie, ein (immerhin minimal) erhöhtes Solidaritätsbewusstsein.

Angie: Als erstes kommt mir ein Video einer Gruppe namens „Dokoumena“ in den Sinn. Wenn ich nicht irre, wurde sie durch die documenta 14, die 2017 auch in Athen stattfand, zu diesem Namen inspiriert. Es ist eine geniale, zum herzlichen Lachen herausfordernde Kritik an der Mode, Athen als das neue Berlin zu präsentieren. Es dekonstruiert humorvoll positive und negative Stereotype und hebt vor allem auf die griechische Realität ab. Für den deutschsprachigen Raum ist mir nichts Entsprechendes bekannt. In Zeiten wie diesen mag ich generell Künstler, die einfach frech sind. Was mir sonst noch einfällt, wäre der Ausdruck „Spree-Athen“ für Berlin, der die deutsche Liebe zur klassischen Antike wiederspiegelt, die sich in der Berliner Architektur, aber auch in der deutschen Geisteshaltung widerspiegelt. Darüber habe ich durch Nicos Ligouris` Film Dialog von Berlin viel gelernt und schließlich denke ich dabei auch mein eigenes Buch, das den Titel „Berlin“ trägt und zwischen Athen und Berlin entstanden ist.

Spiros: Berlin ist eine durch Geschichte und Politik durchtränkte Stadt, ein Klangkörper von Historien und Tragödien, durch die das heutige Europa entstanden ist. In Athen dagegen wird die Erinnerung an Geschichte und Vergangenheit kultiviert, Griechenland überhaupt ist ein Museum für die Genealogie Europas. Aber die Antike ist tot an ihrem Geburtsort, sonst überlebt sie als Kulturgut an mehreren Orten der Welt.

>>Welche Fragen würdest du gerne bei dem Symposium diskutieren?

Ellen: Katja Welche Rolle spielt die Literatur für den kulturellen Austausch zwischen unseren Ländern? Was wird übersetzt? Welche Autoren werden wahrgenommen?

Jan: Mir wäre ein Einblick in die aktuelle griechische Lyrikszene wichtig.

Astrid: Das kann ich erst sagen, wenn ich in der akuten Vorbereitungsphase bin, auf jeden Fall spannende. Hier ein kleines Brainstorming: Auf welchem Stand gesellschaftlichen, historischen Bewusstseins treffen griechische und deutsche Künstler*innen aufeinander? Welche Spuren hat das 20. Jahrhundert mit dem Zweiten Weltkrieg und später der Gastarbeiter*innen-Migration in der Perspektive auf die jeweils andere Gesellschaft hinterlassen? Welche Spuren der deutsche Umgang mit der griechischen Krise? Im Hinblick auf die Situation in Griechenland: Wie erleben die Autor*innen die Regierungs- und Gesellschaftskrise im Bezug auf die Mazedonienfrage, die Überforderung mit der Situation der Geflüchteten, überhaupt die Situation der Geflüchteten, die entweder keinen legalisierten Status haben oder ohne finanzielle Unterstützung im Zentrum Athens überleben? Wie erleben sie die wachsende Gewalt im Stadtzentrum im Allgemeinen und gegen LGBTI* im Besonderen, gerade jetzt nach dem mutmaßlichen Mord an Zak Kostopoulos? Sowie wiederum in der wechselseitigen Perspektive: Welche kreativen Strategien gibt es u.U. gegen den Ausverkauf der Stadt? Welche Strategien internationaler solidarischer Kreativität sind wirkungsvoll im Hinblick auf marginalisierte Bevölkerungsschichten und warum? Aber wie gesagt, Näheres weiß ich erst, wenn ich mich in die Texte stürze und sehe, welche Spuren solche und ähnliche Fragen darin hinterlassen.

Angie: Ich würde gern sehen, wie die deutschen Kollegen die Werke der griechischen Dichter und Prosaautoren wahrnehmen, aber auch vice versa. Außerdem möchte ich hören, wie die deutschen Kollegen die Panel-Themen des Symposiums interpretieren und wie sie als Kulturschaffende die sich radikal verändernde europäische Realität erleben.

Spiros: In den Jahren der sogennanten Griechenlandkrise wurde manchmal das Schweigen der griechischen Autoren darüber bemängelt. Deswegen freue ich mich auf das Echo des bedrückenden Alltags in den Werken der griechischen Schriftsteller. Und in den Werken ihrer deutschen Kollegen möchte ich Experimente des Ausbruchs aus einer saturierten Gesellschaft vernehmen, das, was man früher das Erhabene genannt hat. Also ich würde gerne in Berlin die Korrespondenz zwischen Leben und Literatur diskutieren.

>>Was erwartest du dir darüber hinaus von den SYN_ENERGY Tagen?

Ellen Katja:Neue literarische Entdeckungen, spannende Diskussionen und eine Vielfalt an Perspektiven.

Jan: Gute Begegnungen und Gespräche.

Astrid: Wie ein guter Freund sagt: If you go to the garden of expectations, take a small basket.

Angie: Es ist eine wunderbare Gelegenheit, Texte zu genießen, die ich bisher noch nicht gelesen habe. So erwarte ich mir ein Literaturfest, bei dem die Texte selbst im Mittelpunkt stehen, aus denen ich einen neuen Erkenntnisgewinn für mich ziehen kann.

Spiros: Regen Austausch und Begegnungen zwischen den Schriftstellern beider Länder. Freundschaften zwischen den Schreibenden, die SYN_ENERGY überleben, werden die europäische Akustik der Literatur verbessern

Kai Pohl

Kai Pohl über seine Methode beim Schreiben

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Viele meiner Montagen und Cut-ups sind geformt aus Material, das zu einem großen Anteil dem verbalen Reservoir des world wide web entnommen ist und mittels Schnitt, Neukonstruktion und Transformation gefügig gemacht wurde. Die Basis solchen „Schreibens“ ist kein „literarischer Wert“, sondern sprachlicher Abrieb als Ergebnis eines babylonischen Tastenschlages, der den Orkus des Hypertextes speist.

Verdichtung, nicht Dichtung, heißt die Methode; ein Versuch, den Zungenschlag der Zeit im Medium des Zeitgeistes zu treffen; ein Zungenkuß, der im semantischen Abraum wildert. Daraus entstehen dann zum Beispiel Zeilen wie diese:

„,Frühling, hörst du? / Das Getwitter der Vögel / swingt wie Gerste im Weizenfeld!‘ // Sei der erste, dem das gefällt, / gib deinen Kommentar ein und / verschwende deine besten Jahre / damit, Formulare auszufüllen, / um an Geld zu kommen.“

(aus dem Gedicht „Ein halbes Paar Socken“, erschienen im Band „Staatenlose Insekten“)

Dass ich Montagetechniken zur Textproduktion häufig nutze und zeitweise bevorzuge, folgt der Tatsache, dass es keine „eigenen Worte“ gibt. Auch konventionelle Gedichte gehen ja mit Anspielungen, Zitaten und Ideen um, die aus dem kulturellen Umfeld stammen. Und da niemand genau weiß, woher die Wörter kommen, ist es auch egal, woher man sie nimmt: aus dem Kopf, aus dem Wörterbuch, aus dem Radio, aus der Suchmaschine. Entscheidend ist, wozu man sie nimmt. Der Zweck heiligt die Wörter. Und da man sich mehr als genötigt sieht, zwischen großen Worten leben und sich einrichten zu müssen, bietet sich die Gelegenheit, aus eben diesen Worten die Energie zu beziehen, die nötig ist, um das leere aber mächtige Gerede auszuhalten und auszuschlachten für die Verabreichung einer gut abgeschmeckten Portion Poesie.

Kai Pohl ist Teil des Panels „Poetrypolitics“, 19.10., gemeinsam mit Lilly Jäckl (AT), Jazra Khaleed (GR) und Kyoko Kishida (GR). Wir freuen uns darauf!

Andrea Schmidt

Andrea Schmidt ist Teil des Panels „Schreibpraxen und Präsentationsformen“ (20.10.), gemeinsam mit Yiannis Baskozos (GR), Simone Kornappel (DE) und Lily Michaelides (CY) und sagt treffend:

„Die Orte zum Poetisieren sind überall!“

Das Verlagshaus ist ein Berliner Independent-Verlag. Wir sind stets auf der Suche nach individuellen Strategien, um die Stimmen unserer Autor_innen hörbar zu machen: Neben klassischen Vertriebswegen über Buchhandlungen und unsere Internetseite werden die Bücher in sozialen Netzwerken präsentiert, aber auch — je nach Buch — in Museen, Galerien, Heimwerkerläden und Zoohandlungen: Die Orte zum Poetisieren sind überall! Über eine dieser verlegerischen Strategien werde ich im Panel 6 sprechen und hier eine Edition des Verlagshauses, die »Edition Binaer« vorstellen. Eigens für diese neue E-Book-Reihe haben wir ein flexibles Lyrik-Code-System entwickelt, welches, unauffällig in die Gedichte eingefügt, die Lesbarkeit der Struktur von Gedichten im E-Book gewährleisten soll. Unsere E-Books sind nicht nur eine digitale Version eines gedruckten Buches, sondern zeigen über Interviews, Essays, Kommentare und Glossare den Entstehungszusammenhang von Texten auf. Im digitalen Raum, da, wo viele alteingesessene Buchhändler_innen erst einmal das Sterben des Buches befürchteten, sahen wir die Chance, mit dem Lyrik-Code in E-Books weitere Räume für Gedichte und damit für unsere Autor_innen zu erschließen: Noch keine perfekte Lösung, aber ein Ansatz zum Weiterdenken. Interessiert mich!

Ihre Lieblingsorte sind überall dort, wo es Bücher gibt: bei uns im Verlagshaus Berlin, wo wir neue Manuskripte sichten, Schätze ausgraben und diese in Form von Lyrikbänden zum Leben erwecken.

Außerdem ist sie gerne und oft auf Lesungen oder in gut sortierten Buchhandlungen: meistens, wenn ich mal keine Lyrik lesen und andere literarische Genres entdecken möchte.

Ihr Lieblingsort ist aber auch ihr Schreibtisch zu Hause: an dem ich für Lieblingstexte ganze Bilderwelten entstehen lasse und Aufführungskonzepte für Lesungen entwickle, wie z. B. für den Band »Die Erbärmlichkeit des Krieges« von Wilfred Owen (Verlagshaus Berlin, 2014).

Wir freuen uns sehr, dass Andrea Schmidt Teil von SYN_ENERGY ist!

Phoebe Giannisi

“Poetry is a response to stimuli, which touch, permeate and agitate the body.

In her writings, Phoebe Giannisi asks about the meeting point between poetry and the natural world, she explains that “the so called ‘natural’ world is [her] window to poetry”, that “the bodily senses are mediated by their expressiveness through constructed language, which means poetry or philosophy, the first ax that dug this world.

I am referring to the simplest stimuli, the contact with other beings, with the earth and the place, with the everyday, with life, with memory, with others’ poetry, with what comes from the outside, triggering emotion. Inspiration is a kind of inhalation of the other, that is returned to the outside by a construction made with feeling and thinking. Every part and every species that compose the Chimera has its own autonomy, yet all function evenly as a network.

As I grow up, I have come to realize that for me poetry, writing and vocalization constitute also a form of therapy. As Eleni Stecopoulos aptly puts it in her book Visceral Poetics, poetry is a kind of healing practice, it has to do with illness, it is visceral, sympathetic, it is a form of care in order to be. For me, the practice of handwriting as well as writing itself is such an activity, just like oral recitation is a ritual of healing. More and more consciously, as I practice poetry, I invent a ritual that makes me forget. The cicada that metabolizes the juice is such a vain momentary effort that heals pain without curing.

The dense minimal poems of Giannisi explore with arresting directness the relationship between language and the elements of the natural world with a language which is always subtle and inornate, skillfully bare,” as Haris Vlavianos aptly put it. What is the relationship between art and the urban landscape? Where does poetry meet the natural world in your writings?

Already from my early writings, one could easily discern a quest to utter the experience of a relationship, either enthusiastic or mournful, to the natural element. Is it a kind of return to the archaic? Is this a kind of celebration to beauty? Or is it rather a kind of grief, a desperate attempt to bring the being out of oblivion?

This “archaism” should not be dissociated from language and representation. The so-called ‘natural’ world (along with the questions this term poses in the 21st century in relation to the construction of the natural as part of the cultural) is my window to poetry. But the bodily senses are mediated by their expressiveness through constructed language, which means poetry or philosophy, the first ax that dug this world.

Svenbro writes about the first samples of writings, the inscriptions put in verse on ancient Greek statues, where the first person was used to refer to the object bearing the inscription: “Mr. Brugmann accepts the hypothesis that the Greek ‘ego’ is descended from an Indo-European noun, eg(h)om, meaning Hierheit, “hereness”.” (p. 73, Phrasikleia). I consider this etymology of the ‘I”, “ego”, as related to locality, to “hereness”, a very appealing interpretation, so suitable that it looks fake, for my work. If the “I” is nothing less than a ‘here’, then the voice in poetry expresses nothing but this ‘here’, yet through the multiplicity of subjects, those Others, that dwell ‘here’ at that very moment. Place and language together, language as a place.

If science answers a question that has been formulated, then art responds to questions that never arose, to a kind of a call. In poetry, this is the call of the Other. In the urban landscape, the Other, different but also similar, is related to the human and the social. The urban space renders the human multiplicity; an immense and living complex environment, with its own built typology, its patterns of repetition and ritual, its singular events. Urban space offers the vital perspective of meeting different subjectivities, carrying a polyphony of their own myths and voices.. That’s why situationalists reflect on the city as the primary place for the theater of life, where everyone can playfully participate. City wandering and oral dealings with people enrich experience in the most surprising and joyful way; they also reveal human pain, social inequalities and struggles. Last but not least, the urban space is also the area of publication, where the poet returns to the public what may have been created somewhere in the loneliness, outside.

Phoebe Giannisi is part of the panel „Mythen als performativer Akt“ (18.10), together with Dagny Gioulami (CH), Dirk Uwe Hansen (DE) and Jochen Schmidt (DE).

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Adrian Kasnitz

Interview mit Adrian Kasnitz in der freitag. Er ist Mitherausgeber des Lyrikbands „Kleine Tiere zum Schlachten – Neue Gedichte aus Griechenland“ und am 20.10. Teil des Panels „Brückenbauer“, gemeinsam mit Jorgos Kartakis (GR), Jan Kuhlbrodt (DE) und Elena Pallantza (DE/GR).

[…] Viel wichtiger ist, dass in Griechenland ein ästhetischer Aufbruch in verschiedenen künstlerischen Sparten zu spüren ist. Am deutlichsten ist dies im griechischen Film – man denke an Filme wie Dogtooth von Giorgos Lanthimos oder Attenberg von Athina Tsangari. Da gibt es plötzlich eine neue Generation, die griechisches Kino auf einem internationalen Niveau macht. In der Poesie ist das vielleicht vergleichbar. Da hat sich eine Generation entwickelt, die nicht nur an der griechischen Tradition hängt. Klar, die Einflüsse der Tradition sind da – es gibt die antike Tradition sowie viele griechische Nobelpreisträger. Doch diese neue Generation setzt sich viel stärker mit Texten auseinander, mit denen wir uns auch hier beschäftigen. Das hat vielleicht mit Krise zu tun, in dem Sinn, dass das Alte aufbricht und neue Freiräume besetzt werden können. Aber ich sehe es viel positiver, ich glaube, dass die Öffnung zum einen mit der größeren Rezeption von Übersetzungen internationaler Literatur in Griechenland zusammenhängt und zum anderen mit der Intensivierung internationaler Vernetzung der Dichterszene.

Die Texte im besagten Band sind politisch, feministisch, zeugen aber auch von Energie und ästhetischem Aufbruch.

[…] Wir haben da versucht zu mischen, um nicht so ein düsteres Buch zu machen. Teilweise haben wir sehr politische Texte in der Anthologie, wie zum Beispiel von Jazra Khaleed oder Lenia Safiropoulou, die sich explizit mit der Flüchtlingsthematik auseinandersetzen. Dann haben wir auch poetische Texte ausgesucht, wie zum Beispiel das Gedicht Wolken von Phoebe Giannisi. Man kann vieles auch feministisch lesen. Wir haben viele weibliche Autoren reingenommen, die feministische Ansätze haben und sich mit Macht und Gewalt in Alltagsbeziehungen beschäftigen. Das Abtreibungsgedicht von Pavlina Marvin ist so ein Beispiel. Aber der Band fängt mit Die Füchsin von Katerina Iliopoulou an, das als eine Art Liebesgedicht einer Frau gelesen werden kann.

Der Titel „Kleine Tiere zum Schlachten“ stammt von einem Gedicht von Orfeas Apergis. Wieso dieser Titel?
Die dystopische Stimmung des Buches hat mich dazu verleitet. Ich denke da auch an das Coverbild der Anthologie: diese endlose Athener Betonwüste, in der die Menschen wie Miniaturen erscheinen. Sie sind kleine Tiere, deren Schicksale von wenigen Mächtigen entschieden werden. Kleine Tiere, die gemolken oder geschlachtet werden können. In dem Gedicht von Orfeas Apergis ist davon die Rede, dass ein Opfer gebracht werden muss. So wie die einfachen kleinen Leute, die gerade die Leidtragenden in dieser Krise sind, geopfert werden.

Dagny Gioulami

Ihren ersten Text schrieb Dagny Gioulami in der Bibliothek der Schule für Gestaltung in Zürich.


Die Schule für Gestaltung befand sich damals in meiner Nachbarschaft, in einem sehr eleganten Gebäude aus den Dreissigern, über dem Museum für Gestaltung. Seit einigen Jahren ist die Schule für Gestaltung Teil der Zürcher Hochschule der Künste; zusammen mit der früheren Schauspielakademie, dem Konservatorium und anderen Schulen gehört sie zum beeindruckenden Campus im Toni-Areal, einer ehemaligen Molkerei. Dort gibt es natürlich auch eine Bibliothek, die sogar einen Loungebereich hat, wo man auf amöbenförmigen Möbeln sitzen oder liegen und aus riesigen Fenstern über Industriegebiete und Gleislandschaften blicken kann.
Einmal, in einem amerikanischen Kinderbuch, las ich in der Danksagung des Autors ungefähr folgendes:
„I visited Emily Dickinson’s house in Amherst where this story was lowered to me.“
Dem Autor wurde also in einem bestimmten Haus eine Geschichte heruntergelassen. Er befand sich in dem Haus und die Geschichte schwebte von oben auf ihn herab, wie zum Beispiel Blütenblätter. Von wem oder von wo aus die Geschichte heruntergelassen wurde, weiss man nicht, man kennt nur den Ort, an dem sie beim Autor ankam.
In der alten Bibliothek der Schule für Gestaltung, die nicht mehr die Schule für Gestaltung ist, dachte ich oft an diesen Satz, daran, dass hier die Geschichten zu mir heruntergelassen werden. Lag es an der Schönheit der Architektur? Daran, dass ich dort nicht abgelenkt wurde? An den Dreissiger Jahren? An Sophie Täuber, die an der Schule unterrichtet hatte?
Die Bibliothek fehlt mir. Das Schreiben ist ohne sie schwieriger geworden.
Heute Nachmittag habe ich nachgesehen, wozu der Raum jetzt gebraucht wird: als Werkstatt für die Vermittlung der Designsammlung des Museums. In den Regalen stehen Alltagsgegenstände, die man anfassen darf, an den Tischen kann man zum Thema der laufenden Ausstellung selber etwas gestalten. Diesen Monat werden Kraniche aus Papier gefaltet. Ich habe mich erkundigt, ob das Publikum den Raum frei benutzen darf. Ja und nein. Wenn das Schild „Werkstatt offen, bitte eintreten“ an der Tür hängt, darf man eintreten und basteln. Einfach an einem eigenen Text schreiben oder ein eigenes Bastelprojekt mitbringen ist nicht erlaubt.
Unzählige Kraniche hängen an Fäden von der Decke der alten Bibliothek, die jetzt eine Werkstatt ist. Bald werden die Kraniche heruntergelassen oder fliegen weg.
Ich muss einen neuen Raum finden.

Dagny Gioulami ist Teil des Panels „Mythen als performativer Akt“ (18.10.), gemeinsam mit Phoebe Giannisi (GR), Dirk Uwe Hansen (DE) und Jochen Schmidt (DE). Wir freuen uns sehr!

Jorgos Kartakis

„Als Titel würde ich dem Foto folgende Verse Ingeborg Bachmanns geben: Die erste Welle der Nacht schlägt ans Ufer, die zweite erreicht schon dich.“

Das Bild zeigt Jorgos Kartakis lesend am alten venezianischen Hafen seiner Heimatstadt Chania. „Ich mag diesen Ort im Herbst abseits des Touristentrubels.“

Er ist Teil des Panels „Brückenbauer“, 19.10, gemeinsam mit Adrian Kasnitz (DE), Jan Kuhlbrodt (DE) und Elena Pallantza (DE/GR). Wir freuen uns und sind gespannt!

Maria Topali über Katerina Iliopoulou

Maria Topali und Katerina Iliopoulou kennen sich seit Jahren. Heute teilen sie ihre Eindrücke mit uns:

Maria: Katerina Iliopoulou (Athen, 1967) lernte ich 2003 kennen. Sie hatte gerade gemeinsam mit ihrer Schwester Eleni Sylvia Plath ins Griechische übersetzt. Ich hatte ab dem ersten Moment unserer Bekanntschaft den festen Eindruck, eine „Mitreisende“, eine Art „Genossin“ kennengelernt zu haben. Sie gehörte dieser neuen Generation an, die beim ersten Blick den Eindruck verleiht, aus dem Nichts, ohne Vorfahren, entstanden zu sein. Oder sie sucht ihre Vorfahren und Kommunikationspartnern in anderen Sprachen und Traditionen, vor allem im englischsprachigen Raum. Sie ist im Bereich der bildenden Kunst ebenfalls wie in der Literatur zu Hause und kultiviert als Prinzip den Austausch zwischen Lyrik und Art. Ist sie Feministin? Für mich schon: ich habe sie immer auch diesbezüglich als eine Genossin empfunden, nämlich als Frau die im Bewusstsein ihres Geschlechts schreibt. Ist sie Traditionsbrecherin? Zum Teil ja, was Form und Performance angeht. Vor allem aber was eine neue Moral, eine praktizierte Moral im Alltag der griechischen Lyrik angeht. Katerina initiiert und organisiert geschlossene und öffentliche Gruppenarbeit, ob live Performance oder öffentliche Diskussion oder, seit 2013, Veröffentlichung der exzellenten Zeitschrift „Farmako“ [Medikament], das zweimal im Jahr erscheint und die neuen Wege der Lyrik in Griechenland und im Ausland forschend erforscht, stets im Hinblick auf eine Korrespondenz mit der bildenden Kunst und der Film und Video Kunst. Katerina gehört zu den Personen/Faktoren, die die Landschaft der neuen griechischen Lyrik prägend und erneuernd mitbestimmt.

@Panayotis Ioannidis, Lesung von Frauen für Frauen über Frauen im Athener Spanischen Institut Cervandes, 2013

Katerina: Maria Topali habe ich 2003 kennengelernt, als ich gerade meine ersten Texte publizierte. Seitdem hat sich zwischen uns ein lebendiger und fruchtbarer Dialog entwickelt, der die ganze Bandbreite lyrischen Schaffens umfasst: von Fragen moderner Poetik über Literaturkritik bis hin zu Themen des Umgangs mit poetischen Werken. Im Zuge dieses Dialogs hat sich eine ganz poetische Gemeinschaft herausgebildet, die den ideellen Raum unserer Begegnung absteckt. Die fünf von ihr herausgebrachten Lyrikbände zeichnen sich durch den kühnen Einsatz verschiedenster Ausdrucksmittel aus und durch die Thematiken, die sie beschäftigen, wie etwa Geschlecht als persönliche Erfahrung, Identitätssuche, das Verhältnis Privat-Politisch, der Puls der Geschichte im individuellen Körper der Subjekte, aber auch das Schicksal des poetischen Subjekts und die Suche nach der Sprache, welche diese Thematiken unter Berücksichtigung zeitgenössischer Erfahrungen abbilden und widergeben kann. Die intellektuelle Dimension, die diskrete Intertextualität und der schwarze Humor zeichnen ihre Dichtung aus, in der das Lyrische sich des Öfteren zurückzieht und und das narrative Element immer mehr Bedeutung gewinnt. Ihre beiden letzten Bücher sind vielstimmige Werke, die an ein lyrisches Theaterstück oder auch an Musiktheater erinnern und darüber hinaus vertont und auf der Bühne gezeigt wurden. Maria Topali ist eine konsequent arbeitende Literaturkritikerin mit einer umfassenden Anzahl von Veröffentlichungen, die seit 1996 in auflagenstarken Zeitungen, in der Literaturzeitschrift „Poesie“ und im daraus hervorgegangenen Journal „Poetik“ (wo sie auch Redaktionsmitglied ist) erscheinen. Des Öfteren kooperiert sie auch mit der Lyrikzeitschrift „Farmako“. Ihr kritisches Werk bildet das seltene Beispiel einer wichtigen und nachhaltigen Erfassung der zeitgenössischen griechischen Lyrik jüngerer Autorinnen und Autoren. Darüber hinaus kam kürzlich im Verlag Romiosini eine umfassende Anthologie jüngster griechischer Dichtung unter ihrer Herausgeberschaft in deutscher Übersetzung heraus. In den letzten Jahren hat sie sich vermehrt mit kollektiven Projekten beschäftigt, die Fragen wie Mündlichkeit, Körper und Stimme in der zeitgenössischen Dichtung untersuchen.

Am 18.10. ist Katerina Iliopoulou Teil des Panels „Rhytmus, Wort, Musik“, gemeinsam mit Vassilis Amanatidis (GR), Dominique Macri (DE) und Dalibor Markovic (DE). Maria Topali dürfen wir am 19.10. beim Panel „Race-Gender-Class“, gemeinsam mit Gerasimos Bekas (GR/DE), Nina Rapi (GR) und Achim Wieland (DE/CY) begrüßen. Wir freuen uns sehr!

Gerasimos Bekas

 

 

Am liebsten bin ich oben. Egal, ob in Berlin oder Athen, an der Karl-Marx-Straße oder an der Spyrou Merkouri, es sind die Dächer, die mir am besten gefallen.

 
 


Der Blick von oben, die flüchtigen Beobachtungen, das große Ganze im Blick. Von den Dächern Athens und Berlins aus glaube ich manchmal sogar zu verstehen, was da unten vor sich geht. So lange, bis mir wieder einfällt, dass es da nicht viel zu verstehen gibt und ich einfach den Abstand genieße. Die Übersicht. Die Ruhe. Und die Gewissheit, dass ich bald wieder ein Teil vom Trubel unter mir sein kann, um dabei insgeheim zu denken, „ich weiß wie ihr von oben ausseht.“

 
Gerasimos Bekas über seine Lieblingsorte. Wir freuen uns, ihn am 19.10. bei dem Panel „Race-Gender-Class“, gemeinsam mit Nina Rapi (GR), Maria Topali (GR) und Achim Wieland (DE/CY) begrüßen zu dürfen!

Elena Pallantza

Wir haben gefragt, Elena Pallantza hat geantwortet. Am 20.10. ist sie Teil des Panels „Brückenbauer“, gemeinsam mit Jorgos Kartakis (GR), Adrian Kasnitz (DE) und Jan Kuhlbrodt (DE). 

An welchem Projekt arbeitest du gerade?

Oh, an mehreren gleichzeitig. Meine Projekte sind überwiegend Kooperationen und überkreuzen sich meistens. Gerade übersetze ich mit meinem Übersetzerkreis LEXIS einen lyrischen Monolog von Jannis Ritsos ins Deutsche, wie auch den ersten Gedichtband einer jungen griechischen Dichterin, die in Deutschland aufgewachsen ist. Zugleich arbeite ich an einer Anthologie junger deutscher Dichter*innen für einen Athener Verlag und an einem griechischen Filmprojekt zu Hölderlins „Tod des Empedokles“, bei dem ich als Übersetzerin und Dramaturgin involviert bin. Das klingt erstmal ziemlich bunt und zusammengewürfelt, doch in dieser Vielfalt fühle ich mich zu Hause. Sie entspricht meinem Bedürfnis, die Dinge stets von verschiedenen Seiten zu betrachten, sind doch Schreiben und Übersetzen nichts Anderes als eine dauernde Übung im Perspektivenwechsel.

 

Als in Athen Geborene, später aber u.a. wohnhaft in Freiburg, Bonn und Köln interessiert uns: Hat die Stadt, in der du dich befindest, Einfluss auf deine Tätigkeit als Autorin bzw. Übersetzerin?

Ja, jede einzelne und alle zusammen! Raum ist – wie auch die Zeit – eine der Grunddimensionen eines Textes. Er verleiht unserer fragmentarischen Biographie einen Rahmen. Der Rhythmus einer Stadt geht in den Rhythmus des Schreibens über und, umgekehrt, der Schreibende versucht, seinen eigenen subjektiven Rhythmus in den Rhythmus der Stadt einzubetten. Wechseln wir die Orte, verändern sich auch unsere Worte. Oft wurden Texte, die ich in einer Stadt zu schreiben begann, einem massiven Temperaturwechsel ausgesetzt, als ich sie woanders zu Ende schrieb. Aber spätestens seit Kavafis wissen wir, dass die Städte uns folgen. Dann überlappen sich die Bilder der Stadt, die wir in uns tragen, mit denen der Stadt, in der wir leben. Es entstehen Zwischenräume, in die sich, wie Michel de Certeau sagt, eine kreative Vielfältigkeit hineinschleicht. In einem Zwischenraum zu sein, kann zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen.

Du übersetzt sowohl vom Griechischen ins Deutsche als auch umgekehrt. Fällt dir eine der beiden Bewegungen leichter?

Ich bin zwar nicht genuin zweisprachig, aber in meinem Kopf spielt sich seit Jahrzehnten ein sprachliches und kulturelles Ping-Pong zwischen Griechenland und Deutschland ab. Der Ausgang jeder Partie bestimmte früher die Richtung, in die ich übersetzte. Inzwischen lebe ich so viele Jahre hier, dass mir das Switchen leichter fällt. Es ist nicht mehr mit Verlustgefühlen belastet, es ist sogar gut für mein Gleichgewicht. Ist die Zielsprache einer Übersetzung Griechisch, meine Muttersprache, fühle ich mich nach wie vor im sicheren Terrain; zumindest bilde ich mir ein, dass ich das Ergebnis selbstständig beurteilen kann. In die andere Richtung suche ich den Austausch mit Muttersprachlern. Die Arbeit mit meinen Studenten im Übersetzerkreis LEXIS ist in dieser Hinsicht eine großartige Erfahrung. Es kommt mir vor, als lernte ich dabei von Anfang an, wie deutsche Wörter nicht nur klingen, sondern auch riechen oder schmecken. Ich erfinde mir sprachlich eine Art deutsche Kindheit, die ich natürlich niemals hatte.

 Das Diskussionspanel, an dem du teilnehmen wirst, heißt „Brückenbauer“. Sprach- und länderübergreifende Kooperationen sollen diskutiert werden. Welche „Brücke“ ist dir in diesem Zusammenhang am wichtigsten?

Ich denke dabei vor allem an alte Bogenbrücken, weil sie von beiden Seiten zugleich gebaut werden. In neue kulturelle Landschaften gesetzt. Ιch denke an transdisziplinäre Kooperationsprojekte über die Grenzen hinweg als Chance für nachhaltige Veränderungen. Ich denke an Kunst und Literatur als Antidot gegen Misstrauen, Trennlinien, Stereotypen, Angst. Und ich denke auch an die Notwendigkeit, gegen zunehmende Europaskepsis den Zusammenhalt in Europa zu stärken und insbesondere dabei an das kulturelle Verhältnis von Deutschland und Griechenland, das geradezu symbolisch dafürsteht, weil die tiefe Verbundenheit zwischen den beiden Ländern in den ältesten Grundlagen der europäischen Identität wurzelt. Doch momentan gibt es eher neue Gräben, und es gilt, Ressourcen zu reaktivieren und neue Konzepte des Miteinanderagierens zu formulieren. Da sind Brückenbauer*innen von beiden Ufern wichtiger denn je.

Wir freuen uns auf spannende SYN_ENERGY-Tage!