Elena Pallantza über Phoebe Giannisis Gedichtband Homerika

Elena Pallantza über einen Gedichtband von Phoebe Giannisi


„Homerika“ von Phoebe Giannisi, von Dirk Uwe Hansen für den Verlag Reinecke & Voß ins Deutsche übersetzt, ist eine mutige Wahl und kommt allen zugute, die moderne Experimente mit Mythenmaterial schätzen, was neue und unerwartete Gedankenkombinationen erlaubt.

Phoebe Giannisi: Aigaio_Performance, ©Dafni Papadopoulou

Die Edition zeitgenössischer griechischer Literatur ist in Deutschland so selten, dass sie stets freudige Überraschung auslöst, insbesondere im Fall von Lyrik. Nur ganz wenigen Namen gelingt es, diese Hürde zu nehmen und dem unrentablen Genre eines kleinen Landes Gehör zu verschaffen. Und das ist schade, da die jungen griechischen Lyriker eine literarische Tradition fortsetzen, die – nicht nur – sprachliche Grenzen überwunden hat.




Der Gedichtband führt uns in homerische Orte, insbesondere der Odyssee: auf die Insel der Zauberin Kirke, in die Unterwelt, in Penelopes Kammer, an den Strand, wo Nausikaa dem schiffbrüchigen Odysseus begegnet. Mythische Figuren werden lebendig und erscheinen wie durch einen kleinen (Zeit)Spalt, indem jemand von ihren Taten erzählt, ihre Gedanken liest, das Wort an sie richtet oder ihnen eine Stimme verleiht. Die Figuren sind nicht in ihrem homerischen Selbst gefangen. Sie bewegen sich in ihren Identitäten genauso frei wie durch Raum und Zeit, sind keine kompakten Charaktere, sondern eher offene, wandelbare Abbildungen. Oft leihen sie sich untereinander Eigenschaften und Erfahrungen.

Von Gedicht zu Gedicht macht sich somit hinter der vordergründigen Vielfalt die Wirkung einer verbindenden Kraft bemerkbar. Eine wandelbare einheitliche Stimme erhebt sich allmählich hinter der inszenierten Pluralität und verbindet den einen Text mit dem anderen; wie ein zerbrochenes Ich, das seine verschiedenen Anteile zusammennäht: sein fragmentarisches Gedächtnis, seine zerstückelte Wahrheit, seine Widersprüche.

Warum Homer als Bezugsrahmen? Die allgemeine Antwort darauf ist spätestens seit Yeats, Kavafis und Joyce immer gleich: Der Mythos, ein flexibles und variables Material, ist die einfachste, vertrauteste und verständlichste Weise, die großen Fragen der menschlichen Existenz aus heutiger Sicht neu zu stellen. Die mythische Vergangenheit wird bewusst auf die jeweilige dichterische Gegenwart projiziert. Es ist die berühmte mythic method – nach der unübertroffenen Definition von Eliot das ultimative dichterische Werkzeug, „a way of controlling, of ordering, of giving shape and significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history“.

Phoebe Giannisi benutzt jedoch den homerischen Stoff nicht nur als Ideen- und Symbolquelle, um noch eine weitere postmoderne Penelope zu kreieren, die über die Ungleichheit von Frauen und Männern, über die Vergänglichkeit der Liebe und über die Ungleichzeitigkeit der Sehnsucht nachdenkt. Ihre Gedichte haben eine sinnliche Dimension und folgen einem biologischen Rhythmus. Es geht um den menschlichen Körper, die Atmung, Geräusche, aber auch um Elemente und Jahreszeiten. Darüber hinaus haben wir es hier mit dem Thema „Gedächtnis“ zu tun. Auch in den „Homerika“ werden solche Fragen gestellt- die dichterischen Antworten darauf sind scharfsinnig, originell, weise, melancholisch, humorvoll und feinfühlig. Sie wirken nie melodramatisch und werden von den mythischen Motiven wirksam unterstützt. Odysseus, Symbol der Irrfahrt, der Flucht und der Heimkehr par excellence, vielfach bewährt in der literarischen Tradition, wird bis hin zum Paradigma der äußeren und inneren Vereinsamung und des Identitätsverlustes erweitert: Wie kann der einen Namen tragen/ der vorher ein Niemand war.

Phoebe Giannisi ist Teil des Panels Mythen als performativer Akt am 18.10., gemeinsam mit Dirk Uwe Hansen (DE), Dagny Gioulami (CH) und Jochen Schmidt (DE)

Elena Pallantza beehrt uns am 20.10. als Teil des Panels Brückenbauer, gemeinsam mit Giorgos Kartakis (GR), Adrian Kasnitz (DE) und Jan Kuhlbrodt (DE)


Der ganze Text unter: diablog.eu, ein Netzportal von Michaela Prinzinger