Interview mit Lily Michaelides

Unerwartetes

I

Die Krise greift überall Raum.
Ihr Haar fliegt uns ins Gesicht.
Ihr Parfüm riecht durchdringend nach Bordell.
Sie blickt sich um – erregt, selbstgefällig.

Nach unten führende Krisenstraßen.
Balkon mit Blick auf die Krisenschlucht.
Wappen am Krisentor.

Die Krise ist, denke ich, doch ein abstrakter Begriff.
Wie kann sie die Luft, die Berge,
das Meer, die Sonne erobern?
Wie kann all das raumgreifende Licht ringsum
der Krise gehören?

Ich schlage die Warnungen in den Wind.
Trage die Zeit verkehrt herum,
reiße ihr das ergraute Schläfenhaar aus,
färbe meine Lippen rot
und setze mich Ihrem Krisen-Urteil aus.

II

5.30 morgens.
Die Klassifizierung des Körpers, wie in der Natur.
Alles hat seinen Platz: Augen, Licht,
Geschmack, Tastsinn, Schmerz.
Genau, wenn du denkst, alles funktioniert ganz zivilisiert,
birst mit einem Knacken die Schale, du fliegst im Traum
und alles ringsum bewegt sich sacht,
stumm, gesichtslos.
Mit einem weiteren Knacken zerbersten Haar, Blick,
Lächeln und Gleichgewicht.

Die Stimmung draußen ist düster.
Wie jeden März regnet es afrikanischen Wüstensand
und Rachmaninov verführt dich mit rasender Geschwindigkeit
an Orte, die du dir nie
erträumtest.

Text: Lily Michaelides Übersetzung: Michaela Prinzinger

Michaela Prinzinger im Gespräch mit der zyprischen Schriftstellerin und Lyrikerin Lily Michaelides

Die Übersetzerin Michaela Prinzinger und künstlerische Leiterin von SYN_ENERGY, hatte die Gelegenheit, Lily Michaelidesin Berlin zu treffen. Im Gespräch geht es um die besondere Situation von Autor*innen auf der seit 1974 geteilten Insel. Lily Michailides lebt in Nicosia und ist seit 2013 eine der beiden Leiterinnen des Vereins „Ideogramma“, der auf Zypern und im europäischen Ausland Literatur- und Poesiefestivals organisiert. Seit 2001 hat sie fünf Gedichtbände und ein Prosawerk publiziert.

Lily Michailides ist am 20.10. Teil des Panels Schreibpraxen und Präsentationsformen, gemeinsam mit Simone Kornappel (DE), Giannis Baskozos (GR) und tba.


veröffentlicht auf: diablog.eu, ein Netzportal von Michaela Prinzinger