Cornelia Jentzsch zu Odysseas Elytis
Warum sollte man Odysseas Elytis (1911-1996) , einen der großen Dichter nicht nur Griechenlands, sondern der Weltliteratur, immer wieder lesen? Weil inmitten politischer Waghalsigkeit und Verantwortungslosigkeit das Lesen von Elytis Gedichten mit ihrer elementaren humanen Kraft zu einem Geschenk und gleichfalls zur notwendigen Erinnerung wird. Vermutlich weiß jede Gesellschaft um diese energetische Potenz, würde sie sonst die Poesie nicht immer wieder – entgegen dem organischen Bedürfnis des Menschen nach den in der Poesie vertretenen Werten – zu marginalisieren versuchen?
Auf der letzten Seite seines Gedichtzyklus‘ „Westlich der Trauer“ schreibt Odysseas Elytis: „Sonderbar / Wie unbegreiflich wir leben, doch abhängig davon sind“. Er erschien in Griechenland 1995, ein Jahr bevor Elytis starb. Die Verse lesen sich als poetisches Vermächtnis. „Was bleibt ist Dichtung allein. Dichtung. Gerecht und wesentlich und direkt / Vielleicht wie in der Vorstellung der ersten Menschen / Gerecht in der Würze des Gartens und unfehlbar in der Zeit.“
Elytis‘ Gedichte sprechen von einer schon fast befremdlich anmutenden, weil bedingungslosen Verantwortung eines Einzelnen gegenüber den Menschen. Odysseas Elytis, der deshalb für sein Werk 1979 den Nobelpreis erhielt, begründete seine Haltung: „Ich betrachte die Dichtung als eine Quelle schöpferischer UNSCHULD, die ich in meinem Bewußtsein gegen eine schuldige Welt richte, um diese unter ständigen Verwandlungen so umzuformen, daß sie mit meinen Träumen in Einklang steht… Ich hoffe, daß ich so eine Freiheit, die allen Regierungen entgegengesetzt ist, und eine Gerechtigkeit, die mit dem absoluten Licht identisch ist, am Leben erhalte.“
Elytis Beharren auf Unschuld, Gerechtigkeit und Licht leitet sich direkt aus der antiken Mythologie, dem christlich-orthodoxen Glauben und der eigenen Nationalgeschichte her. So, wie Elytis seine Dichtung in der Vergangenheit verankert hat und aus ihr hervorschreibt, so verschwindet seine Poesie gegen Ende wieder hinter dem Horizont der Zeit. Oxópetra, das seinem 1991 erschienenen Gedichtzyklus den Namen gab, ist nicht nur Kap der Insel Astipalea, sondern für Elytis ist „Oxópetra der äußerste Punkt: wo die Erde ins Wasser eindringt, unsere Epoche in eine andere – der äußerste Punkt: wo mein Leben in den Tod eindringt“, wie er in einem Essay schreibt. Elytis zieht in diesen Gedichten noch einmal über das Erinnerungsmeer, zu den vergangenen Orten seines Lebens in Erwartung des nahenden Todes. Die Sonne – Helios, Energiequell und göttliches Zentrum – geleitet ihn, Elytis bezeichnet den Tod als „Sonne ohne Untergang“. Das Meer ist real und blau, gldichzeitig mythischer Erfahrungsraum. „See… / Sobald auch diese in einem fort raunend etwas von ihren uralten Mysterien / Offenbart, versagt dem Menschen die Stimme / Allein die Seele.“ Das Wort Oxópetra selbst läßt sich mehrfach übersetzen, geographisch bedeutet es felsiges Kap, „Außenstein“, es ist aber auch ein regional volkssprachlicher Ausdruck für „Grabstein“. In der griechischen Mythologie öffnet sich das Wort zum „Hadesstein“ (pétra), auf dem Odysseus wie von Kirke befohlen opfert.
Der Zyklus „To Axion Esti. Gepriesen sei“ bildet die Mitte des Werks von Odysseas Elytis. Elytis verschränkt in unglaublicher Transparenz und Schönheit drei verschiedene Erzählstränge miteinander: die Schöpfungsgeschichte eines „reinen Menschen kämpferischer Unschuld“, die Idee der Dichtung und die wechselvolle Geschichte Griechenlands. In allen Partikeln finden sich Impulse aus dem Alten und Neuen Testament, Homer, Sappho, Heraklit, Pindar, Platon bis Plotin. Seine Verse goß Elytis in erprobte und noch immer kraftvolle Formen tradierter orthodoxer Lithurgien: Psalmen, Oden und Lesungen. Das moderne Griechenland nahm „To Axion Esti“ zu Recht als eine neue Bibel auf, und diese ungewöhnliche Popularität von Poesie unterstütze der Komponist Mikis Theodorakis, der wesentliche Auszüge vertonte.